Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, steigende Strom- und Lebensmittelpreise haben die Armut in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern der Welt verstärkt. In Deutschland hat die Zahl der Antragsteller bei spendenfinanzierten Organisationen, die kostenlose Mahlzeiten an Bedürftige verteilen, die 2-Millionen-Marke überschritten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes können Millionen Menschen ihre Wohnung nicht ausreichend heizen. In einer Umfrage des Beratungsunternehmens EY gab jeder Zweite an, wegen stark steigender Preise nur das Nötigste gekauft zu haben.
Doch laut umfangreichen Recherchen des der Hans-Böckler-Stiftung angegliederten Instituts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (WSI) ist die Zunahme der Armut nichts, was nach der Corona-Pandemie oder dem Ukraine-Krieg plötzlich zu beobachten ist. Die Untersuchung zur Einkommensverteilung zeigt, dass die Armut in Deutschland, Europas größter Volkswirtschaft, Mitte 2010-2019, genau zum Zeitpunkt der starken Wirtschaftskonjunktur, rapide zuzunehmen begann.
Die Quote der „sehr Armen“ stieg auf 11,1 Prozent
Der Untersuchung zufolge stieg die Zahl der „sehr armen“ Menschen, die über weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen, im Zeitraum 2010–2019 um 40 Prozent, und ihr Anteil an der Bevölkerung stieg auf 11,1 Prozent. In dem Bericht wurde darauf hingewiesen, dass das durchschnittliche Einkommen pro Person im Haushalt 2010 21.219 Euro und 2019 24.37 Euro betrug.
Dorothee Spannagel und Aline Zuco, die Forscherinnen, die den Bericht erstellt haben, stellten fest, dass die zunehmende Armut in diesem Prozess im Jahr 2019 ein Rekordniveau erreicht habe, und wiesen darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit im Zeitraum 2010-2019 zwar zurückgegangen sei und sich die Situation in der Wirtschaft verbessert habe, die Haushalte aber konnten von dieser Entwicklung nicht profitieren und verschlechterten die Situation sogar. Auch auf die negativen Auswirkungen von Armut auf Lebenszufriedenheit, Gesundheit und Bildung wurde hingewiesen.
Nach 2019 ließen die Corona-Pandemie und die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges die Wunde tiefer werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurde die Zahl der von Armut bedrohten Menschen im Jahr 2021 mit 13 Millionen erfasst. Diese Zahl bedeutet 15,8 Prozent der Bevölkerung. Als arm gelten nach der Definition im EU-Recht Personen, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens der Gesamtbevölkerung verfügen.
Der Glaube an die Demokratie schwindet, je ärmer wir werden
Eine der wertvollen Erkenntnisse der Forschung ist, dass Armut nicht nur die finanzielle Situation widerspiegelt, sondern auch das Demokratieverständnis beeinflusst. Unter den Armen, die an der Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung teilgenommen haben, liegt der Anteil derjenigen, die die Demokratie für die geeignetste Staatsform halten, bei 68 Prozent, während der Anteil derjenigen, die der Aussage, dass die Demokratie in Deutschland gut funktioniert, zustimmt allgemein blieb bei 59 Prozent.
WSI-Managerin Bettina Kohlrausch wies darauf hin, dass Armut auch zu einer Erosion des Glaubens an staatliche Institutionen führe, und betonte, dass dies nicht nur ein Problem der Armen, sondern der gesamten Gesellschaft sei. „Armut und gesellschaftliche Polarisierung können, gerade wenn sie Wurzeln schlagen, unser demokratisches Zusammenleben in den Grundfesten erschüttern“, warnte Kohlrausch.
Eine Studie des Institute for Macroeconomics and Business Cycle Studies ergab, dass eine hohe Inflation Familien mit niedrigem Einkommen am stärksten trifft. Strom- und Lebensmittelpreise bilden in diesem Segment den größten Ausgabeposten der Gesamteinnahmen.
Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Creditreform startet nächstes Jahr mit einer neuen Schuldenwelle. In dem vom Unternehmen veröffentlichten Schuldenatlas wird davon ausgegangen, dass die Zahl der hoch verschuldeten Haushalte im Jahr 2022 bei etwa 5,9 Millionen liegt, sich die Situation im Jahr 2023 jedoch verschlechtern und die Zahl der überschuldeten Haushalte auf 6,5 Millionen ansteigen könnte.
Armut in Deutschland: Warum ist jedes fünfte Kind arm?
Um dieses Bild anzuzeigen, aktivieren Sie bitte JavaScript und erwägen Sie ein Upgrade auf einen Webbrowser, der HTML5-Videos unterstützt
dpa/BK,HS
DW