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Deutschland: Ein Land im Protestmodus

Angela Merkel, die 16 Jahre lang Ministerpräsidentin war, gewann alle Wahlen, an denen sie teilnahm, mit fast der gleichen Strategie: Durch Nichtstun! Auch der Wahlslogan des CDU-Politikers war ganz einfach: „Ihr kennt mich schon!“ Auf allen Plakaten nahm er seine berühmte Pose ein: Er lächelte und formte mit seinen Händen eine Rautenform. Dank seines Stils und seiner Haltung, die jeder annahm und mit ihm identifizierte, konnte niemand sein Handgelenk verbiegen.

Mit der Zeit wurde das Rautenzeichen auch zu einem politischen Symbol: Dieses Zeichen war ein Garant dafür, dass sich die wohlhabenden und friedlichen Lebensverhältnisse in Deutschland nicht negativ verändern würden. Aus heutiger Sicht ist dies offensichtlich ein Irrglaube. Fakt ist aber auch, dass dieser Ansatz in der deutschen Gesellschaft Wurzeln geschlagen und tiefe Spuren hinterlassen hat.


Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr berühmtes Handzeichen Foto: REUTERS

Deutschland ist nicht auf Erschütterungen und Krisen vorbereitet

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev sagte in seinem Interview mit dem grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Magazin „Der Spiegel“ im Oktober 2023: „Sie können die ganze Welt verändern, wenn Sie wollen, aber berühren Sie nicht meinen Lebensstil!“ Er analysierte die Entwicklung einer Mentalität, die wie folgt definiert werden kann: Auf Krisen und Erschütterungen sei die „innere Dynamik“ Deutschlands nicht vorbereitet gewesen: „Die letzten 30 Jahre waren so gut, dass man sich wünscht, dass diese vergangene Situation nie endet.“

Tatsächlich war die aktuelle Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, als sie im Dezember 2021 an die Macht kam, nicht auf den plötzlich ausbrechenden Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Folgen für Deutschland vorbereitet. Die Regierungsparteien, die aufgrund ihrer Parteifarben auch „Ampelkoalition“ genannt werden, hatten ein klares Ziel: „Deutschland verändern, ohne Abstriche bei der Wohlfahrt zu machen.“

Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel, abgestimmt auf die Klimaschutzziele, würde ohne Wohlfahrtsverluste erfolgen. Die Finanzierung all dessen würde durch das zusätzliche Budget von 60 Milliarden Euro erfolgen, das während der Pandemiezeit geschaffen wurde, aber brach blieb, weil es nicht benötigt wurde. Allerdings entschied das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung im November 2023, dass diese Haushaltsplanung verfassungswidrig sei und damit sämtliche Kalkulationen der Regierung über den Haufen geworfen seien.

Kürzungen wurden als Zumutung empfunden

Nach Kriegsbeginn wurde es für die Berliner Regierung unmöglich, ihre vor der Wahl gemachten Versprechen einzuhalten. Der Verzicht auf billiges russisches Gas ließ die Preise zeitweise explodieren und die Wirtschaft beruhigte sich. Der Wohlstandsverlust war in allen Teilen der Gesellschaft tief zu spüren.

Die Kürzungen der Sozialausgaben und Subventionen durch die Regierung zur Schaffung zusätzlicher Ressourcen sowie die Rückkehr zu den Mehrwertsteuersätzen vor der Pandemie in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie wurden von der Gesellschaft zunehmend als Notwendigkeit oder Zumutung und nicht mehr als Notwendigkeit wahrgenommen. Fast jeder, vom Ladenbesitzer bis zum Arbeiter, vom Beamten bis zum Bauern, ist müde und satt, und einige sind wütend auf die Regierung. Dass sich daraus nach und nach eine Explosion gesellschaftlicher Wut entwickelte, wurde beim Besuch von Ministerpräsident Olaf Scholz in den von den Überschwemmungen betroffenen Katastrophengebieten im Norden deutlich. Der Premierminister war Protesten und Anschuldigungen von Bürgern ausgesetzt, die ihn als „Lügner“, „Verräter“ und sogar „Bandit“ bezeichneten.


FDP-Chef Christian Lindner, SPD-Chef Olaf Scholz, Grünen-Chef Annalena Baerbock und Robert Habeck (von links nach rechts)Foto: Markus Schreiber/AP/Picture Alliance

Versuch eines Angriffs auf Habecks Fähre

Besonders wütend sind die Landwirte, deren Subventionen gekürzt werden. Sie blockieren bundesweit Straßen und Wege, dringen aus Protest in die Städte ein und legen den Verkehr lahm.

Landwirte, die auch von Rechtsextremen unterstützt wurden, versuchten, die Fähre anzugreifen, auf der Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Robert Habeck aus den Weihnachtsferien zurückkehrte. Dieses schwerwiegende Ereignis erinnerte sofort an die Kampagnen während der Pandemie, in denen einige Politiker gezielt ins Visier genommen und bedroht wurden. Damals kam es bei Protesten vor den Residenzen hochrangiger Politiker immer wieder zu besorgniserregenden Szenen, insbesondere in Regionen, in denen die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) stark vertreten war.

Spaltungs- und Polarisierungstendenzen

Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 waren die Deutschen unter den EU-Ländern am wenigsten aufgeschlossen gegenüber populistischer Politik. Acht Jahre später scheint sich diese Situation deutlich geändert zu haben. Nach Ansicht des Journalisten und Rundfunksprechers Albrecht von Lucke nimmt die Polarisierung in der deutschen Gesellschaft zu und der Schwerpunkt politischer Tendenzen verlagert sich in Richtung Extreme: „Deutschland bewegt sich weg von einer Konsensgesellschaft und hin zu einer Kultur der Meinungsverschiedenheit und weist gleichzeitig Tendenzen zur Spaltung und Spaltung auf.“ Polarisation.“

„Debatten sind unverzichtbar für eine demokratische Kultur. Aber wenn diese Debatte nicht von Kompromisswillen begleitet wird, sondern jede Gruppe versucht, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, dann wird die Demokratie ausgehöhlt, die Regierung verliert jegliche Autorität und schließlich kommt es zu offensichtlichen Verschiebungen in Richtung.“ „Extreme Extreme“, sagt Lucke im Gespräch mit der DW. Es ist möglich.“

unterdrückte Wut

Ursula Münch, Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, nennt die Proteste der Landwirte, die mit ihren Traktoren die Straßen blockierten, eines der offensichtlichsten Beispiele für die zuletzt gestiegene gesellschaftliche Wut: „Es wurde beschlossen, dass die Subventionen schnell enden.“ . Landwirte, denen nicht genügend Zeit gegeben wurde, sich auf eine solche Situation vorzubereiten, und weil ihre Organisationen nicht im Voraus konsultiert wurden, fühlten sie sich ignoriert und ignoriert.“

Zu einem ähnlichen Wutausbruch kam es Anfang 2023: Als an die Presse durchsickerte, dass die Regierung Öl- und Gasheizungen so schnell wie möglich verbieten und stattdessen den Einbau von Wärmepumpenheizungen verpflichtend vorschreiben will, gab es große Aufregung öffentliche Reaktion. Insbesondere das Ansehen des Wirtschaftsministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Habeck wurde stark erschüttert und die Wählerquoten der Koalitionsparteien gingen zurück.


Protest gegen die Klimapolitik der Regierung in Bayern im Juni 2023Foto: Matthias Balk/dpa/picture Alliance

AfD auf dem Vormarsch

Allerdings müsse sich laut Münch niemand in Deutschland überfordert fühlen: „Wir sind ein Sozialstaat mit großen Ressourcen und einem soliden finanziellen Fundament. Es ist verständlich, dass manche Menschen besorgt sind, aber wir sollten uns davon nicht zu sehr mitreißen lassen.“ „

Doch viele Bürger teilen diese Meinung nicht. Die Reaktion gegen die zentralen Parteien, die nachweislich für die negative Lage verantwortlich sind, kommt der teilweise sehr rechten AfD am meisten zugute. Die Unterstützung für die Partei nimmt von Tag zu Tag zu. In den östlichen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo im September Landtagswahlen stattfinden, ist die AfD in den Umfragen mit Abstand stärkste Partei.

Wird das Jahr 2024 von „wütenden Wählern“ geprägt sein?

Politologe Münch warnt davor, nur auf die Äußerungen von Extremisten und Populisten zu hören, da die AfD die Polarisierung befeuert, und fügt hinzu: „Ich glaube, es besteht gerade jetzt eine echte Bedrohung bzw. Gefahr, denn einige der Bürger lassen sich leicht instrumentalisieren. Jetzt sie.“ sagen nur unwirkliche Dinge.“ „Die Zahl der Abkehrer von klassischen politischen Parteien nimmt zu.“

Auch Albrecht von Lucke hält es für sehr wahrscheinlich, dass das Jahr 2024 von „verärgerten Wählern“ geprägt sein wird, wenn sich die Politik der aktuellen Regierung nicht deutlich ändert: „Unzufriedenheit und Polarisierung in der Gesellschaft werden anhalten, die Wut wird noch stärker wachsen.“ Das führt dazu zu einem deutlichen Anstieg der Protest- und Wutstimmen bei den Wahlen. „Warum wird das passieren?“

D.W.

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