Ein Dilemma der deutschen Außenpolitik: Auf der Website des Bundesaußenministeriums heißt es, Außenpolitik beruhe auf der „Förderung von Demokratie und Menschenrechten“. Es wird betont, dass Frieden, Sicherheit, Stabilität und nachhaltige Entwicklung auf Dauer nur dort möglich sein können, „wo demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien gelten und Menschenrechte geachtet werden“.
Wenige Zeilen später heißt es jedoch, Deutschland sei als Handelsland auch mittendrin in einer effektiven Außenwirtschaftspolitik, die „den Unternehmen hilft, sich ausländischen Märkten zu öffnen und die Rahmenbedingungen für unternehmerische Bewegungen zu verbessern“.
Deutschland will demokratische Werte auf der Grundlage der Menschenrechte stärken. Es zielt auch darauf ab, seine nationalen Interessen wie alle Länder zu schützen. Bisher keine zufälligen Probleme. Aber wenn Grundwerte und Interessen kollidieren, ändern die Dinge ihre Farbe. Gerade wenn von Beziehungen zu arabischen Staaten die Rede ist, zeigt sich dieser Widerspruch in seiner offensichtlichen Form.
Geflüchtete in Not umarmen
Die Bundesregierung begrüßte die Ende 2010 in vielen arabischen Ländern einsetzenden Demokratisierungsbemühungen und Massenproteste. Diese auch „Arabischer Frühling“ genannte Bewegung verlor im Laufe der Zeit an Schwung und blieb weitgehend erfolglos. Deutsche Politiker haben Menschenrechtsverletzungen in arabischen Ländern wie die Verfolgung und Inhaftierung von Oppositionellen oder die Unterdrückung von Frauen immer wieder verurteilt. In der Folge nahm Deutschland rund 770.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ins Land auf. So nahmen die Deutschen die Flüchtlinge auf, indem sie schnell und flexibel vorgingen, als sie am dringendsten gebraucht wurden.
Gleichzeitig wurden jedoch starke Handelspartnerschaften mit Ländern wie Ägypten und Saudi-Arabien aufgebaut, deren Menschenrechtsbilanz äußerst schwach ist und die unter normalen Bedingungen ferngehalten werden sollten. Gerade bei hochprofitablen Rüstungsexporten hat sich gezeigt, dass Politik und Wirtschaft Rückschläge hinnehmen. Tatsächlich behaupteten Kreise, die diese Haltung kritisierten, dass einige Zugeständnisse gemacht wurden, die über die Duldung hinausgingen. Als Reaktion auf diese Kritik wurde argumentiert, dass der Handel zu einer positiven Veränderung in den betreffenden Ländern beitragen würde. Eine solche Argumentation lehnen jedoch insbesondere die Grünen, Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International und Greenpeace ab.
Auswirkungen auf die Innenpolitik
Gerade nach den Flüchtlingsbewegungen seien die Beziehungen zu den arabischen Staaten laut dem Nahost-Experten Guido Steinberg noch wertvoller geworden. „Wir haben gesehen, dass die Ereignisse im Nahen Osten im Jahr 2015 und insbesondere in Nordafrika sehr dramatische Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik haben können“, sagte Steinberg von der Stiftung Deutsche Wissenschaft und Politik (SWP) der Deutschen Welle.
In mehr als einer Frage gebe es unter den Mitgliedern der Bundesregierung keinen Konsens, sagte Steinberg: „Sie werden keinen Politiker finden, der sagt, dass es in unserem Interesse ist, nicht mehr Flüchtlinge aus diesen Ländern zu haben Wir haben es mit Terrorismus zu tun, dem wir große Bedeutung beimessen, da müssen einige Voraussetzungen geschaffen werden. Aber das ist Deutschland. Darüber wird fast nie gesprochen“, sagt er.
Drei Hauptziele Deutschlands im Nahen Osten
Aus diesem Grund, so Steinberg, der erklärte, die Interessen müssten genauer definiert werden, habe die Bundesrepublik im Nahen Osten drei Hauptziele: „Erstens die Verbreitung von Atomwaffen in der Region zu verhindern. Zweitens Stabilität zu gewährleisten so viel wie möglich, um neue Flüchtlingsströme zu verhindern. Drittens, eine aktive Anstrengung gegen den Terrorismus.“
Kerstin Müller, Nahost-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), fordert „eine ausgewogenere Außenpolitik gegenüber der arabischen Welt“. Im Gespräch mit der DW macht Müller auf die Rüstungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) aufmerksam: „Die VAE sind Deutschlands wertvollster Handelspartner in der Region. Tatsächlich pflegt Deutschland eine strategische Partnerschaft mit diesem Land am Jemenkrieg beteiligt, liefert aber weiterhin Waffen aus Europa und Deutschland.“
Kerstin Müller
Milliarden Waffenexporte
Dass Deutschland keine Hemmungen hat, Geschäfte mit gewalttätigen Partnern zu machen, zeigt auch die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Grünen Anfang Januar: 2020 seien der Bundesregierung insgesamt 1,1 Milliarden zur Verfügung gestanden US-Dollar, darunter Länder, die an den Konflikten im Jemen oder in Libyen beteiligt waren, und genehmigte Waffenexporte in Höhe von 16 Milliarden Euro. In diesem Zusammenhang 752 Millionen nach Ägypten, 305,1 Millionen nach Katar, 51,3 Millionen nach Vereinigte Arabische Emirate, 23,4 Millionen nach Kuwait, 22,9 Millionen an den Nato-Partner Türkei, 1,7 Millionen nach Jordanien. Waffen und Ausrüstung durften zum Preis von 1,5 verkauft werden Millionen Euro nach Bahrain und 1,5 Millionen Euro.
Auch die Beziehungen zu Saudi-Arabien kritisiert der deutsche Nahost-Experte. Nachdem der saudische Journalist Jamal Khashoggi im Oktober 2018 im saudi-arabischen Generalkonsulat in Istanbul ermordet wurde, hat die Bundesregierung den Verkauf von Waffen und militärischer Ausrüstung an Saudi-Arabien ausgesetzt. Kerstin Müller argumentiert, dass ein diskontinuierlicher Schritt nicht ausreiche und Waffenexporte in die Saudis auf keinen Fall getätigt werden dürften. All das ist laut DGAP-Experte Müller nicht nur widersprüchlich, sondern auch unkonventionell zu den Rüstungsexportbestimmungen der Bundesregierung. Denn mit der betreffenden Richtlinie wird der Verkauf von Waffen und Rüstungsgütern in Krisenzeiten und in Krisenregionen mit Beteiligung von Drittstaaten untersagt.
Schwächt Deutschland seine eigene Position?
„Das ist für mich der politisch entscheidende Punkt“, betont Müller, wenn Deutschland für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der arabischen Welt aktiv werden wolle, müsse Deutschland sich zunächst an seine eigenen gesetzlichen Regelungen und politischen Grundsätze halten Damit schwächt Deutschland allein seine Position in der Region.“
Auch in Deutschland wächst der innenpolitische Druck zur Neuordnung der Nahostpolitik. Guido Steinberg, Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, betont, dass die deutsche Außenpolitik immer im Dilemma zwischen Interessen und Kosten stehe. Diese seien in den letzten Jahren noch weiter gestiegen, glaubt Steinberg, dass mit dem Aufstieg der Grünen die ethischen Kosten immer wichtiger werden.
Guido Steinberg
Forderung nach mehr politischer Verantwortung
Mit den Bundestagswahlen Ende September geht die 16-jährige Amtszeit von Angela Merkel als Bundeskanzlerin zu Ende. Die nächste Bundesregierung wird sich mit vielen außenpolitischen Problemen sowie der Straffung der Zügel durch die USA auseinandersetzen müssen.
Denn die Washingtoner Regierung will, dass Deutschland international mehr Verantwortung übernimmt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Bundesregierung in wichtigen Krisen im Nahen Osten, wie dem Libyen-Konflikt, eine ganz andere Politik verfolgen sollte, in der sie bislang eine Vermittlerrolle innehatte.
Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Politik
Nahost-Analyst Stefan Lukas, der sich dem Thema von einer ganz anderen Seite nähert, betont den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Politik. Angesichts der Tatsache, dass die zunehmenden Wetterbedingungen aufgrund des globalen Klimawandels die bereits bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme weiter anheizen, glaubt Lukas fest daran, dass ein neuer Flüchtlingsstrom aus destabilisierten Ländern Afrikas und des Nahen Ostens nach Europa möglich ist.
Um dies zu verhindern, müssten jetzt Maßnahmen ergriffen werden. Europa sollte diesen Staaten, deren Wirtschaft stark von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas abhängig ist, alternative wirtschaftliche Anreizmöglichkeiten bieten.
Auch der Wissenschaftler Stefan Lukas, der die Sicherheitspolitik in der Golfregion und die Auswirkungen des Klimawandels untersucht, hofft, dass der Klimawandel als „Chance für multilateralen Frieden“ genutzt werden kann. Denn die Länder des Nahen Ostens wollen den Klimawandel, den sie negativ zu spüren bekommen, so gering wie möglich halten.
„Deshalb kann ein einheitliches Umfeld oder ein Klimakonsens ein ausreichender und solider Ort für eine gewichtigere politische Zusammenarbeit sein“, sagte Lukas.
Ralf Bösen
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