Deutschland ist mit Streiks ins neue Jahr gestartet. Gerade als der sechstägige Streik der Maschinistengewerkschaft bei der Bahn gerade zu Ende war, rief die Gewerkschaft Ver.di zum Streik an den Flughäfen auf. Ungefähr 25.000 Sicherheitskräfte traten am 1. Februar in den Streik. Schon am nächsten Tag streikten 130 kommunale Bus-, U-Bahn- und Straßenbahnunternehmen in 81 Städten und 42 Kreisen.
Weitere Streiks sind in Planung. Nachdem sich die Flugbegleitergewerkschaft UFO aus den Tarifverhandlungen zurückgezogen hat, könnte es in naher Zukunft zu einem weiteren Streik bei der Fluggesellschaft Lufthansa kommen.
Wird Deutschland zum Streikland?
Wenn es um Massenstreiks in Europa hinsichtlich Beteiligung und Umfang geht, fällt mir Frankreich ein. Angesichts der jüngsten Zunahme von Arbeitsniederlegungen in Deutschland besteht der Eindruck, dass es sich zu einem Streikland entwickelt hat.
Thorsten Schulten von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung weist darauf hin, dass bei dieser Wahrnehmung die Tatsache eine Rolle spiele, dass Streiks in Bereichen stattfinden, die die Bürger stark betreffen, etwa im Verkehrswesen. Schulten weist darauf hin, dass die Beteiligung am Streik zwar in den Bereichen Bau, Chemie und Metall gestiegen sei, dies jedoch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werde, da es keinen großen Einfluss auf das tägliche Leben habe. Ob es zu einer Zunahme der Streiks kommt, könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, gibt der Arbeitsmarktexperte an, da noch keine genauen Zahlen zu den Streiks des letzten Jahres vorliegen.
Allerdings lässt sich festhalten, dass die Beteiligung an Streiks zugenommen hat. Schulten gibt an, selbst die Gewerkschaften seien von der Intensität der Beteiligung am Streikaufruf und dem Anstieg der Mitgliederzahlen überrascht gewesen.
Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt: „Wir können durchaus sagen, dass es heute mehr Streiks gibt als vor zehn oder zwanzig Jahren.“ Aber natürlich haben wir auch Zeiten wie die 1980er Jahre erlebt, in denen die Streiks heftiger waren. „
Wenn man die Streiks in Deutschland mit den europäischen Nachbarländern vergleicht, kann man sagen, dass die Stimmung recht ruhig ist. Während in Deutschland zwischen 2012 und 2021 durchschnittlich 18 Arbeitstage lang 1000 Arbeitnehmer streikten, waren es in Frankreich 92 und in Belgien 96.
Transformation vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitsmarkt
Bei den Streiks in Deutschland spielt die steigende Inflation der letzten Jahre eine wichtige Rolle. DIW-Chef Fratzscher sagte: „Der Preisanstieg der letzten drei Jahre ist weit hinter der Inflation zurückgeblieben. Aus diesem Grund ist die Kaufkraft vieler Menschen heute gesunken und die Menschen wollen diesen Kaufkraftverlust kompensieren.“
Neben der Inflation spielt auch der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel bei dem Streik eine Rolle. Fratzscher weist darauf hin, dass im Land eine Beschäftigungslücke von 1,8 Millionen Menschen bestehe, die nicht geschlossen werden könne. Diese Situation mache die Arbeitnehmer selbstbewusster und Forderungen wie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Preise würden lauter lauter laut.
Diese Situation bringt nicht nur Forderungen nach Preiserhöhungen, sondern auch nach Verkürzungen der Wochenarbeitszeit mit sich, wie der Eisenbahnstreik zeigt. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Reduzierung der Arbeitsbelastung standen während des Streiks der Fluggesellschaften im Vordergrund.
DIW-Chef Fratzscher prognostiziert, dass sich der Wandel vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt in den kommenden Jahren beschleunigen wird und die Streiks in den nächsten zwei bis drei Jahren zunehmen werden.
In diesem Jahr finden in Deutschland Tarifverhandlungen in der Banken-, Bau-, Chemie-, Metall- und Elektronikindustrie statt. Die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Post und den Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollen voraussichtlich Ende des Jahres abgeschlossen werden. Tarifverträge in all diesen Bereichen betreffen 12 Millionen Arbeitnehmer.
Die alternde Bevölkerung wirkt sich auch auf die Gewerkschaften aus
Die Stärke von Gewerkschaften hängt von der Anzahl ihrer Mitglieder sowie von der Anzahl der Arbeitgeber ab, mit denen sie einen Tarifvertrag abgeschlossen haben. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat ihre Mitgliederzahl im vergangenen Jahr um 40.000 Menschen erhöht. Dies stellt den größten Mitgliederzuwachs seit der Gründung der Gewerkschaft im Jahr 2001 dar. Wenn wir jedoch die letzten dreißig Jahre betrachten, sehen wir, dass die Gewerkschaften einen großen Mitgliederschwund erlebt haben.
Es ist nicht einfach, den demografischen Rückgang der Mitgliederzahlen umzukehren. Die Alterung der Bevölkerung hat auch Auswirkungen auf die Gewerkschaften. Arbeitsmarktexperte Thomas Schulten weist darauf hin, dass die Mitgliederstrukturen der Gewerkschaften nicht mit der Struktur des Arbeitsmarktes übereinstimmen. Schulten weist darauf hin, dass diejenigen, die in geburtenstarken Jahren geboren wurden, in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen werden, weist darauf hin, dass sich diese Gruppe stark in Gewerkschaften engagiert, und fügt hinzu: „Mit anderen Worten: Gewerkschaften müssen jedes Jahr neue Mitarbeiter mit dem Prestige der Ergebnisse rekrutieren.“ ihre Mitgliederzahl aufrechtzuerhalten, und das ist eine sehr wichtige Aufgabe.“
Die Macht von Tarifverträgen
Auch die Tarifbeschäftigung, ein weiterer wichtiger Faktor für die Macht der Gewerkschaften, ist seit Jahrzehnten rückläufig. Während zu Beginn der 1990er-Jahre 80 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland tariflich abgedeckt waren, liegt diese Quote heute unter 50 Prozent. Weitere 50 Prozent sind nicht durch Tarifverträge gewerkschaftlich verbunden und arbeiten im Rahmen eines direkt mit dem Arbeitgeber geschlossenen Vertrages.
Allerdings bergen Tarifverhandlungen auch viele Vorteile für den Arbeitgeber. Da beispielsweise während der Geltungsdauer des Tarifvertrages kein Streik möglich ist, bietet die Planung Sicherheit für den Arbeitgeber. Schulten erinnert daran, dass in den 60er Jahren, als die Arbeitslosigkeit sehr niedrig war, die Arbeitgeber allgemeine Tarifverträge bevorzugten, während die Gewerkschaften auf betrieblicher Basis verhandeln wollten, und fügt hinzu: „In der späteren Zeit begannen viele Unternehmen, Tarifverträge als unnötig anzusehen. Vor allem in „Jetzt scheint es, dass wir mit der Stärkung der Position der Arbeitnehmer auf einen neuen Wendepunkt zusteuern. Unter den neuen Bedingungen wird auch das Interesse der Arbeitgeber an Tarifverträgen zunehmen.“ „
Auch der EU-Ausschuss plant in diese Richtung. Mit der im Jahr 2022 erlassenen Verordnung ist vorgesehen, dass der Tarifsatz in 27 EU-Mitgliedsstaaten auf mindestens 80 Prozent erhöht wird. Die Mitgliedstaaten müssen die Verordnung innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umsetzen und in Kraft setzen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will in den kommenden Monaten das seit langem auf der Tagesordnung stehende Tarifgesetz vorstellen. Die Bundesregierung plant im Rahmen des Gesetzes, öffentliche Ausschreibungen nur noch an Unternehmen mit Tarifverträgen zu vergeben.
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D.W.